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Familien

„Sitzen auf einem Pulverfass“ - Psychische Situation von Kindern und Jugendlichen nach Corona

veröffentlicht am 03.03.2023 von Redaktion krankenkasseninfo.de

Dr. Ines Brock-Harder (bkj) Dr. Ines Brock-Harder (bkj)
Dr. Inés Brock-Harder ist Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (bkj) und Mitglied der Interministeriellen Arbeitsgruppe (IMA) „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“. Im Gespräch mit krankenkasseninfo.de benennt Sie problematische Fakten und nötige Lösungsansätze.

2023-03-03T12:16:00+00:00
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Frau Dr. Brock-Harder, schon während der Pandemiezeit wurde vor den psychischen Langzeitfolgen der Lockdowns gewarnt. Mit welchen Krankheitsbildern kommen Kinder und Jugendliche nun nach Corona in die Therapie?

Die psychischen Belastungen in Familien waren erheblich, worauf wir als Therapeuten frühzeitig hinwiesen. Insgesamt stiegen diagnostizierte Fälle psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen im Pandemiezeitraum um bis zu 30 Prozent an – und dies besonders in sozial belasteten Familien, wo beispielsweise nur ein Elternteil zur Verfügung stand.

"Wir fordern in erster Linie mehr ambulante Versorgung"

Im Lockdown nahmen die Angststörungen und Depressionen stark zu, während etwa Kinder mit Schulphobien damit zunächst weniger Probleme hatten. Dafür traten Phobien im Anschluss um so stärker auf. Auch Zwangsstörungen und Essstörungen nahmen zu: sowohl Magersucht als auch besonders dramatisch Adipositas. Auffällig ist auch ein gestiegener Medienkonsum. All das müssen wir jetzt auffangen, obwohl nicht annähernd ausreichend Therapieplätze zur Verfügung stehen. Es ist also tatsächlich ein Pulverfass auf dem wir sitzen und die Folgen noch gar nicht absehbar.


(c) DAK Gesundheit / R Berner, J Dötsch (IMA)


Wo genau setzt eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an, und mit welchen Methoden arbeiten Therapeutinnen und Therapeuten in diesem Bereich?

Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist sehr vielfältig, weil wir es mit ganz verschiedenen Altersstufen zu tun haben. Bei der Behandlung von Regulationsstörungen von Kleinkindern gibt noch gar keine sprachliche Ebene. Kinder im Alter zwischen fünf und sieben haben wiederum die wunderbare Fähigkeit, ihre seelische Belastung im Spiel auszudrücken.Jugendliche hingegen sind sehr introspektiv und auf der Suche nach ihrem Selbst. Dort liegt dann das therapeutische Gespräch im Vordergrund. Bei den Therapiemethoden stehen uns die nach SGB V zugelassenen Verfahren zur Verfügung. Dazu gehören derzeit die Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Psychoanalyse. Im Unterschied zu Erwachsenen ist absurderweise die systemische Therapie noch nicht zugelassen, obwohl gerade diese bei der Familie ansetzt, um die es ja geht.

Kann man denn mit Kindern und Jugendlichen überhaupt eine Psychotherapie losgelöst von der Familie durchführen?  

Nein, natürlich nicht. Bei den niedergelassenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sind Sitzungen mit einer wichtigen Bezugsperson vorgeschrieben. Das sind in erster Linie die Eltern, die engmaschig mit begleitet werden. Als Voraussetzung für eine ambulante Therapie ist dafür auch eine Mitwirkungsbereitschaft erforderlich.

"Wir müssen das familiäre Umfeld im Blick haben,
wozu  Eltern, Geschwister und viel häufiger
als man denkt auch die Großeltern gehören."

Wenn ich als Therapeutin mit Eltern spreche geht es einerseits also darum, Verständnis für die seelischen Belange des Kindes zu erzeugen aber auch diese zu bewegen eine Veränderung zuzulassen im Sinne ihrer eigenen Möglichkeit, zur Heilung beizutragen. Es handelt sich dabei nicht um Familientherapie im eigentlichen Sinne, aber wir müssen das familiäre Umfeld im Blick haben, wozu  Eltern, Geschwister und viel häufiger als man denkt auch die Großeltern gehören. Auch bei den zugewiesenen Fällen, wo das Jugendamt oder die Familienhilfe von vornherein mit eingebunden ist, kann und muss ich als Therapeutin so arbeiten. 

Therapiesitzung mit einer Jugendlichen Therapiesitzung mit einer Jugendlichen(c) getty Images / Yaraslau Mikheyeu


Erwachsene in Therapie legen sich oft jahrelang „auf die Couch“. Wie lang dauert eine Psychotherapie mit Kindern oder Jugendlichen?

Genau wie bei erwachsenen Patienten beträgt auch bei Kindern der Rahmen für eine Kurzzeittherapie bis zu 24 Stunden. Wenn das nicht ausreicht, dann eine Langzeittherapie mit 70 , 90 oder bis zu 120 Stunden. Üblich ist eine wöchentliche Frequenz, in schweren Fällen auch zwei Sitzungen pro Woche. Der Zeitrahmen hängt natürlich auch vom Therapieverfahren ab. Liegen zum Beispiel frühkindliche Störungen vor hilft es wenig, das Verhalten in einer Kurzzeittherapie zu trainieren. Eine Therapie mit Kindern kann also auch bis zu zwei Jahren benötigen, denn viele Dinge liegen tiefer verborgen und benötigen den therapeutischen Schutzraum ohne Zeitdruck.

Wie kommen betroffene Eltern an einen Therapieplatz für ihr Kind?

Eine Therapie wird zum Beispiel vom Kinderarzt oder einem psychiatrischen Facharzt für Kinder- und Jugendliche verschrieben und von der Krankenkasse bewilligt. Man kann mit seinem Kind aber auch direkt zur psychotherapeutischen Sprechstunde kommen. Dort sind dann zwei bis sechs so genannte probatorische Sitzungen möglich, noch bevor ein Therapieplatz beantragt wird.    

"In der Realität mangelt es an freien Therapieplätzen"

Auch die Terminservicestellen können helfen und sind verpflichtet zeitnah einen Termin beim Psychotherapeuten zu gewährleisten. Doch in der Realität mangelt es an freien Therapieplätzen, so dass große zeitliche Lücken zwischen einem Erstkontakt und dem Beginn einer längeren Therapie entstehen.   

Als Verband mischen Sie sich auch aktiv in die Gesundheitspolitik ein. Worauf kommt es im Augenblick besonders an?   

Schon im Jahr 2020 mahnten wir als Verband, die Bedürfnisse von Kindern in all den Maßnahmen nicht aus dem Blick zu verlieren und schrieben mehrfach an die Bundesregierung. Während der Pandemie war der stationäre Bereich besonders überlastet und wegen der Abstandsregeln konnte nur eingeschränkt gearbeitet werden.

"Optimistisch stimmt uns, dass wir in unserem
Bereich keinen Fachkräftemangel haben."

In der Gegenwart aber fordern wir in erster Linie mehr ambulante Versorgung. Das kommt bei der Politik auch an, kann aber nicht schnell genug umgesetzt werden, weil viele Akteure beteiligt und die Regularien für Zulassungen kompliziert sind. Optimistisch stimmt uns, dass wir in unserem Bereich keinen Fachkräftemangel haben. Es wäre also schnell möglich, für Verbesserung zu sorgen, wenn es gelingt, unbürokratisch und zügig neue Kassensitze zu schaffen. Im Augenblick beträgt die durchschnittliche Wartezeit auf einen Therapieplatz je nach Region bis zu sechs Monaten. Wir sollten uns bewusst machen, dass ein halbes Jahr im Leben eines Kindes eine sehr lange Zeit ist.    


Website Bundesverband für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie e.V. 


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