"Dies ist eine Sackgasse." BKK-Chef Knieps zur geplanten Reform des Morbi-RSA
Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden des BKK-DachverbandesHerr Knieps, die gute Konjunkturlage beschert auch den gesetzlichen Kassen hohe Einnahmen und Rücklagen. Andererseits ist von Schieflagen beim Finanzierungssystem die Rede. Wo genau klemmt es?
Den so genannten Morbi-RSA hatte der Gesetzgeber 2009 eingeführt, um innerhalb der GKV faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Aus Sicht der Betriebskrankenkassen wird dieses Ziel schon seit langem verfehlt. Eine Kassenart erhält deutlich mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds als sie für die Versorgung ihrer Versicherten benötigt – ein Wettbewerbsvorteil gegenüber den anderen Kassen. Denn wer höhere Einnahmen aus dem Fonds erzielt, als für die Versorgung der Versicherten benötigt werden, kann dies über niedrige Zusatzbeiträge, attraktive Zusatzleistungen oder Boni direkt an seine Versicherten weitergeben. Hiervon profitieren vor allem die AOKn.
"Einen Wettbewerb könnte es dann bald nicht mehr geben, wenn nur noch eine Kassenart übrig bleibt."
Alle anderen Kassenarten erhalten dagegen weniger Mittel als sie für die Versorgung ihrer Versicherten benötigen. Sie sind also gezwungen, höhere Zusatzbeiträge zu erheben und können nur geringe Rücklagen aufbauen. Gleichzeitig müssen sie auch noch Geld an wohlhabendere Kassen abführen. Paradox, ist aber Realität. Der Morbi-RSA folgt in seiner Ausgestaltung nicht der tatsächlichen Versorgung. Eine Reform ist deshalb dringend notwendig.
Die großen Ersatzkassen gelten als Verlierer des derzeitigen Verteilungssystems, während die AOKn als Gewinner dastehen. Wie ist die Situation der Betriebskrankenkassen?
Auch die BKK sind in Summe seit Jahren benachteiligt. Bei ihnen schlägt eine Unterdeckung von 250 Millionen Euro zu Buche. Dies sind die aktuellsten Finanzdaten aus dem Jahr 2017. Die Schere der Deckungsbeiträge bei den Kassenarten geht bereits seit etlichen Jahren erheblich auseinander. Wenn nichts passiert, verstärkt sich dieser Effekt rasant und die Über- und Unterdeckung bei den Kassen verschärft sich weiter (siehe Grafik). Einen Wettbewerb könnte es dann bald nicht mehr geben, wenn nur noch eine Kassenart übrig bleibt.
Der Morbi-RSA ist ja erfunden worden, um die Krankenkassen unabhängig von ihrer Krankheitslast finanziell auszustatten. Heute gewinnt man den Eindruck, dass das Gegenteil erreicht wurde, also eine Abhängigkeit von Morbiditäten. Ist dies gemeint, wenn der BKK-Verband von Wettbewerbsverzerrung spricht?
Auch, aber nicht nur. Was Sie ansprechen, betrifft die seit Jahren bekannte und im Jahr 2016 öffentlich gewordene Manipulation bei der Kodierung von Krankheiten. Diese Manipulationen tragen mit zu den großen Unterschieden bei den Deckungsbeiträgen bei. Seit 2016 ist publik, dass offenbar einige Krankenkassen auf Ärzte eingewirkt haben, ihre Patienten auf dem Papier kränker zu schreiben als sie sind. Damit ziehen sie mehr Mittel aus dem Gesundheitsfonds.
"Es hat sich gezeigt, dass Manipulationen bei den Diagnosen ein lohnendes Geschäft sind"
Die Politik hat zwar den Versuch unternommen, diese Aktivitäten zu stoppen: In der Praxis finden sich jedoch nach wie vor Umgehungsstrategien, um die Einnahmen der Kassen durch die RSA-Zuweisungen zu optimieren. Es hat sich gezeigt, dass Manipulationen bei den Diagnosen ein lohnendes Geschäft sind und auch bleiben, wenn der Morbi-RSA nicht reformiert wird. Darüber hinaus gibt es weitere Systemfehler beim Morbi-RSA, die zu Wettbewerbsverzerrungen führen.
Die Politik hat ja auf Forderungen der Kassenverbände reagiert und wird noch vor 2020 den Morbi-RSA reformieren. Was wären Vorschläge für ein verbessertes Ausgleichssystem?
Eine Möglichkeit zur Verbesserung wäre die Berücksichtigung von extrem teuren Akuterkrankungen. Denn bei den derzeitigen Verteilungen werden nicht die laufenden Behandlungskosten, sondern die mit der Krankheit verbundenen Kosten im Folgejahr berücksichtigt. Die Konsequenz ist, dass die Kassen sozusagen auf ihren Kosten „sitzenbleiben“.
Eigentlich müsste der Strukturausgleich ganz neu gedacht werden.
Weitere Reformelemente aus Sicht der Betriebskrankenkassen könnten etwa die Streichung der Gruppe der Erwerbsminderungsrentner, die Berücksichtigung der Grundlohnkomponente beim Krankengeld, die Reduzierung der Morbiditätskomponente bei den Verwaltungskosten auf 30 Prozent oder auch die Begrenzung des Einkommensausgleiches bis zur Höhe des durchschnittlichen Zusatzbeitrages sein.
Doch lassen Sie noch einen Gedanken zu: Ist mehr RSA auch gleich ein besserer RSA? Ist der Ansatz der Richtige, den RSA immer weiter zu verfeinern und damit immer komplexer und damit komplizierter zu gestalten? Dies ist eine Sackgasse. Eigentlich müsste der Strukturausgleich ganz neu gedacht werden. Wir sollten eine Debatte darüber zulassen.
Als ehemaliger Abteilungsleiter im Gesundheitsministerium kennen Sie den Politikbetrieb gut, den sie heute in Bezug auf die genannten Probleme im Morbi-RSA kritisieren. Wie könnte aus Ihrer Sicht der Risikostrukturausgleich wieder ein handlungsfähiges 'lernendes System' werden?
Der Morbi-RSA wurde bei seiner Etablierung im Jahr 2009 als „lernendes System“ bezeichnet, das hinsichtlich seiner Wirkungen auf die Risikoselektion aber auch den Wettbewerb regelmäßig überprüft und modifiziert werden sollte. In den letzten Jahren fand diese regelhafte Überprüfung jedoch nicht statt. Im Gegenteil: nur mit politischem Druck gelang es, Sondergutachten in Auftrag zu geben – und zwar an die Wissenschaftler, die den Morbi-RSA seit Jahren evaluieren! Einzelne Sondergutachten liegen nun vor. Konkrete Handlungsempfehlungen, die die massiven Wettbewerbsverzerrungen reduzieren, fehlen.
"Wir als Betriebskrankenkassen fordern von der Politik, dass der Morbi-RSA transparenter, zielgenauer und gerechter ausgestaltet wird."
Andere Länder, wie die Schweiz und die Niederlande, machen es uns vor: Hier gibt die Politik vor, wie der jeweilige Ausgleichsmechanismus zwischen den Kassen wirken soll und die Wissenschaftler setzen diese Vorgaben statistisch/technisch um. In regelmäßigen, transparenten Evaluationen von unterschiedlichen Gutachtern und unter Beteiligung der betroffenen Kassen werden dann die Effekte einer Veränderung der Stellschrauben bzw. des Mechanismus geprüft. Dieses Vorgehen wünsche ich mir auch für Deutschland. Wir als Betriebskrankenkassen fordern von der Politik, dass der Morbi-RSA transparenter, zielgenauer und gerechter ausgestaltet wird.